BEITRAG

 

Nico, Chiara und Daniela*

 

Nico stürmt in sein Zimmer, holt die Spielzeugkamera aus dem Schrank. Begeistert erklärt er, dass er jetzt Fotos machen wolle, und die große Wunde am Ellbogen scheint vergessen… 

Wäre vor 7 Jahren in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik erlaubt gewesen, dann gäbe es Nico heute nicht. Der Sechsjährige hat einen seltenen Gendefekt, der bewirkt, dass seine Haut bei geringster Belastung Blasen bildet und reißt. Epidermolysis bullosa junctionalis heißt diese Erbkrankheit, ein Leiden, das schon im Säuglingsalter zum Tode führen kann und meistens ein Leben voller Schmerzen und Einschränkungen mit sich bringt. Ob die Anlage zu dieser unheilbaren Krankheit vorliegt, lässt sich vorgeburtlich feststellen - anhand einer einzigen Körperzelle. Die Beschreibung als „schwerwiegender genetischer Schaden“, der nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs die selektive Präimplantationsdiagnostik (PID) rechtfertigen soll, trifft auf Nicos Fall zu.

 

Wenn ihr ein solcher Test damals angeboten worden wäre, hätte Nicos Mutter ihn durchführen lassen, denn für ein schwerkrankes Kind zu sorgen, das hätte sie sich früher nicht zugetraut. Heute denkt sie anders.

Nicos Eltern haben mit der Kr ankheit ihres Jungen leben gelernt und fühlen sich inzwischen auch extremen Herausforderungen gewachsen. Ein Schicksal, das sie sich nie ausgesucht hätten, hat die Eheleute zusammengeschweißt und stark gemacht. Denn was kann es für Eltern Schlimmeres geben als die Aussage von Ärzten, ihr Kind leide an einer tödlichen Krankheitsvariante und werde wahrscheinlich nicht mehr lange leben? Wer dann den Alltag aushält und sich die Hoffnung nicht nehmen lässt, den kann nicht mehr viel erschüttern.

Die Aussage der Ärzte stützte sich auf einen Gentest. Das Testergebnis war korrekt. Die Prognose nicht. Nico geht seit September zur Schule, und die Ärzte betrachten ihn als ganz besonderen Fall.

 

Chiara schwingt auf der Schaukel, dass die bunten Kirschbaumblätter auf sie herabregnen, und strahlt übers ganze Gesicht. Auch sie hat eine genetische Besonderheit: das Down-Syndrom. Zu leiden scheint sie darunter nicht. Im Gegenteil: Sie ist ein fröhliches, quicklebendiges Mädchen. Chiara weiß nicht, dass Kinder wie sie „heute gar nicht mehr zur Welt kommen müssten“, wie man so sagt, weil man sie bei pränatalen Ultraschalluntersuchungen bereits an ihrer dicken Nackenfalte erkennen und anhand einer Fruchtwasserprobe aufspüren kann. Nur jedes zwanzigste der so „Entdeckten“ erblickt das Licht der Welt. Alle anderen werden abgetrieben.

Chiaras Fröhlichkeit steckt an. Auf dem Weg durch die Stadt plappert sie und singt, tanzt zum Mundharmonikaspiel eines Straßenmusikanten, grüßt jeden, dem sie begegnet. Einer Fremden, die ihr eine kleine Freude macht, gibt sie ungehemmt einen Kuss. Nein, das ist nicht peinlich; Chiara versprüht einen Charme, der andere aus eigener Trübsal reißt.

Ihre Eltern finden klare Worte. Sie seien mit ihrer Tochter „ganz bestimmt nicht weniger glücklich als mit einem gesunden Kind“. Chiara sei „die größte Bereicherung in ihrem Leben“.

 

Daniela ist gehbehindert, weil sie kurz nach der Geburt eine Gehirnhautentzündung bekam, die nicht folgenlos ausheilte. Doch Mitleid braucht sie nicht. Die attraktive junge Frau im Rollstuhl ist heute glücklich verheiratet, als Beraterin im Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Behinderter tätig und bekräftigt, dass sie ihre Behinderung selbst nie als besonders schlimm empfunden habe: „Ich kenne mich ja nicht anders“.

Ihrer Tochter den Weg freikämpfen zu müssen, waren Danielas Eltern gewohnt. Sie nahmen es gefasst, dass das Mädchen, um die Erlaubnis zum Besuch der Regelschule zu erhalten, in einem speziellen Test seine Intelligenz nachweisen musste. Immer wieder machten sie die Erfahrung, dass man Daniela aufgrund ihrer Gehbehinderung nicht viel zutraute. Die Skepsis der Gesunden reichte über das Abitur hinaus, bis zum Abschluss des Studiums. Trotz aller Schwierigkeiten haben Danielas Eltern ihr einen einprägsamen Satz mit auf den Weg gegeben: „Du bist das Beste, was wir bekommen konnten.“ Das Gleiche sagt ihr Mann.

 

Warum denken und sprechen die Eltern von Nico, Chiara und Daniela so positiv über ihr Leben mit einem behinderten Kind? Weshalb steht ihr Empfinden im Gegensatz zu dem der PID-Befürworter? Ganz einfach: PID sondert nicht Gendefekte aus, sondern Menschen – Kinder im frühesten Stadium ihrer Entwicklung. Und diese Kinder bringen alles mit, was es zum Leben braucht. Eltern, die ein behindertes Kind lieben gelernt haben, wissen das.

Wenn unsere Gesellschaft irgendwann einmal eine Entwicklungsstufe erreichen sollte, in der das Leben mit solchen Kindern keinen grenzwertigen Kraftaufwand mehr erfordert, dann würden sich Diskussionen um die vorgeburtliche Selektion erübrigen. Denn zum Verschwinden bringen lassen sich Behinderungen durch solche Eingriffe nicht; die meisten entstehen nach der Geburt.

 

Nico, Chiara und Daniela sind behindert, doch lebensfroh wie gesunde junge Menschen. Ihre Eltern hatten sich das Leben anders vorgestellt, doch eintauschen würden sie diese Kinder um keinen Preis.

Wer um jeden Preis ausschließlich gesunden Nachwuchs haben möchte, der sollte Erwachsene adoptieren, denn Schwangerschaft, Geburt und Kindheit werden – allem medizinischen Fortschritt zum Trotz – immer mit hohen Risiken verbunden bleiben.

 

*Der Beitrag erschien zuerst am 19. Oktober als „Fremde Feder“ in der Frankfurter Allgemeinen. Die Namen wurden von der Redaktion nicht geändert.

 

IM PORTRAIT

Prof. Dr. Holm Schneider

Prof. Dr. Holm Schneider, geboren 1969 in Leipzig, ist Kinderarzt am Universitätsklinikum Erlangen.